Das Schutzbengelchen – eine klitzekleine Weihnachtsgeschichte

Weihnachtsgeschichte vom Schutzbengelchen

Wer behauptet eigentlich, dass Schutzengel immer brav sind, sich nie schmutzig machen und nur mit ganz leiser Stimme sprechen? Ja, auf die ganz normalen Schutzengelchen mochte das vielleicht zutreffen, aber nicht auf das Schutzbengelchen.

Das Schutzbengelchen versuchte zwar, immer brav zu sein, aber manchmal war ihm eben nicht nach Nettsein zumute. Sondern nach Ärgerlichsein. Oder sogar nach Wütendsein.

Das Schutzbengelchen hatte eine ziemlich laute Stimme. „Die Ohren tun uns ja weh, wenn du so brüllst!“, sagten die anderen Engelchen oft.

Das Schutzbengelchen war sogar für den Engelschor zu laut. Wenn es mitsang, konnte man die anderen Engelchen kaum noch hören.

Und irgendwie schaffte das Schutzbengelchen es immer, sich schmutzig zu machen – und das sah natürlich auf weißen Kleidern ganz schön blöd aus!

Das Schutzbengelchen hatte strubbelige Haare, die gar nicht so schön silbern glänzten und so ordentlich gekämmt waren wie die Haare der anderen Engelchen.

Und es vergass ständig, seinen Heiligenschein aufzusetzen. Dabei war das wichtig, denn wenn ein Engelchen mal verloren gehen sollte, dann konnten es die anderen Engelchen und die Erzengel ohne seinen Heiligenschein nicht mehr finden.

Natürlich sollten Engelchen nicht einfach verloren gehen – denn es war ihnen streng verboten, ihre Wolken zu verlassen und ohne Erlaubnis zur Erde hinunter zu fliegen. Das gehörte zu den wichtigsten Schutzengelregeln.

Das Schutzbengelchen fand die Schutzengelregeln langweilig: Niemals unerlaubt auf die Erde fliegen, immer den Heiligenschein aufsetzen, immer nett sein, nur gute Gedanken zu den Kindern schicken, …

„Wir Engel mischen uns nicht ungefragt in das Leben der Menschen ein“, sagte Erzengel Michael immer, der für die Engelchen so etwas wie der oberste Chef war – ähnlich wie ein Schuldirektor, wenn es denn eine Schutzengelschule gegeben hätte. „Wir schicken den Menschen nur gute Gedanken, die ihnen helfen, das Richtige zu tun.“

Die braven Schutzengelchen taten natürlich genau das, was Erzengel Michael sagte. Sie waren so fleißig und ehrgeizig, dass sie zur Belohnung viele goldene Sternchen bekamen, die sie am Nachthimmel leuchten lassen durften. Das Schutzbengelchen bekam nie goldene Sternchen, leider.

Doch der Erzengel Michael, der alles hörte und alles sah und immer ein bisschen mehr wusste als alle anderen, hatte einmal etwas wirklich Nettes zum Schutzbengelchen gesagt. Er hatte ihm über die zerzausten Haare gestrichen, seinen Heiligenschein gerade gerückt und gesagt: „Du, mein Junge, hast ein echtes Löwenherz!“

Das Schutzbengelchen fand es einfach langweilig, den ganzen Tag nur auf einer Wolke zu sitzen und aufzupassen, dass Benjamin, sein Schutzkind, nicht bei Rot über die Straße lief, nicht mit fremden Menschen mitging, keine roten Beeren von den Bäumen naschte oder den Hund der Nachbarn ärgerte.

Benjamin musste man überhaupt keine guten Gedanken schicken. Denn Benjamin würde niemals bei Rot über die Ampel gehen. Er mochte es nicht, alleine auf der Straße zu spielen, besonders nicht, wenn es dunkel wurde. Er fürchtete sich vor fremden Menschen, vor anderen Kindern und vor Hunden sowieso.

Ben war so brav und so fleißig und so langweilig, dass er eigentlich das Engelchen hätte sein sollen … Ja, Ben hatte bestimmt kein „Löwenherz“, dachte das Schutzbengelchen. Eher ein „Mäuseherz“ vielleicht.

Viel mehr Spaß als brav auf einer Wolke zu sitzen, machte es dem Schutzbengelchen, auf der Wolke auf und ab zu hüpfen. Und auf – und ab! Und hoch – und runter! (Natürlich gab es eine Schutzengelregel, die sagte, dass man nicht auf Wolken hüpfen sollte.)

Man musste vorsichtig sein, denn wenn man zu lange und zu viel auf der Wolke herumhüpfte, konnte es passieren, dass es auf der Erde anfing zu regnen – oder sogar zu schneien. Doch das war egal, fand das Schutzbengelchen. Es war sowieso kurz vor Weihnachten und da würde den Menschen ein bisschen Schnee bestimmt nichts ausmachen – im Gegenteil!

Es hüpfte also auf seiner Wolke und hüpfte und hüpfte … bis es plötzlich auf seinen Heiligenschein trat, der ihm vom Kopf gefallen war, und auf dem Heiligenschein ausrutschte. Und von der Wolke direkt auf die Erde hinunter purzelte, genau vor Benjamins Füße!

Oh je – das war ungeschickt! Beim Fallen verlor das Schutzbengelchen einen seiner Engelsflügel und seinen Heiligenschein hatte es natürlich auch nicht aufgesetzt. Wie sollten ihn die anderen Engel jetzt auf der Erde finden können? Und ohne den zweiten Flügel würde es nicht fliegen können.

Und überhaupt – es schneite jetzt ganz ordentlich. In seinem dünnen weißen Engelskleid wurde es dem Schutzbengelchen ziemlich kalt.

Oh je! Da nützte auch das größte Löwenherz nicht. Was würde der Erzengel Michael schimpfen! Das gab eine ordentliche Strafe. Und auch noch so kurz vor Weihnachten …!

Da saß das Schutzbengelchen nun im Schnee und wusste nicht, was es tun sollte.

„Hey?“, sagte eine ziemlich dünne und ziemlich ängstliche Stimme. Ben, der Junge mit dem Mäuseherzen. „Kommst du von der Adventsfeier in der Schule? Oder vom Krippenspiel?“

Das Schutzbengelchen konnte und durfte nicht sprechen. Und das mit dem Gutegedankenschicken funktionierte auch nicht. Irgendwie hatte das Schutzbengelchen nicht einen einzigen guten Gedanken mehr übrig.

„Was ist passiert?“, fragte Ben vorsichtig. „Ach, du hast deinen Flügel verloren!“

Das Schutzbengelchen nickte.

„Ich helfe dir suchen“, sagte Ben. Dann zog er seinen dunkelblauen Anorak aus und gab ihm den Schutzbengelchen. „Hier, damit du nicht so frierst.“

Danke, wollte das Schutzbengelchen sagen. Aber es konnte ja nicht sprechen, deshalb nickte es wieder.

Dann suchten sie den verlorenen Flügel. Inzwischen war noch mehr Schnee gefallen und es war sehr schwierig, in all dem Schnee einen weißen Schutzengelchen-Flügel – nein, Schutzbengelchen-Flügel zu finden.

Sie suchten und suchten, bis es dunkel wurde und Bens Finger vor Frieren schon ganz rot waren. Das Schutzbengelchen spürte sein Löwenherz pochen und pochen. Oh je! Was würde bloß Erzengel Michael sagen …!

„Keine Sorge“, sagte Ben, „den finden wir schon noch, deinen Flügel!“

Und tatsächlich, da lag der weiße Engelsflügel im Garten von Bens Nachbarn. Mitten auf der verschneiten Schaukel war er gelandet. „Hm …“, sagte Ben, „ich kann über den Zaun klettern und den Flügel holen. Ist ja schon dunkel, merkt bestimmt keiner.“

Das Schutzbengelchen war froh. Endlich hatte es seinen Flügel wieder! Jetzt konnte es nach Hause fliegen, hoch in den Himmel auf seine Wolke. Es musste nur warten, bis Ben im Haus verschwunden war. Der durfte das schließlich nicht sehen.

Danke, rief das Schutzbengelchen laut in Gedanken. Danke! Es nahm Bens Hand und schüttelte sie. Vielleicht ein bisschen zu kräftig, doch Ben lächelte. „Kein Problem“, sagte er. „Wär ja schade gewesen um dein Kostüm. Also dann, tschüss!“

Das Schutzbengelchen drehte sich um und wollte losrennen, doch Ben hielt es an einem seiner weißen Engelskleidzipfel fest: „Hey, Vorsicht – die Ampel ist rot!“ Oh je, das war gerade noch einmal gut gegangen … puh, Glück gehabt! Oder: Zum Glück Ben gehabt.

Erst als Ben im Haus verschwunden und es wirklich ganz dunkel geworden war, schwebte das Schutzbengelchen langsam los, immer höher und höher … Während es so in Richtung Himmel schwebte, dachte es nach.

Vielleicht, dachte es, hatte Ben ja doch kein Mäuseherz. Nicht gerade ein Löwenherz natürlich aber … ein Elefantenherz vielleicht? Ja, vielleicht hatte Ben ein Elefantenherz: Groß und mit ziemlich viel Platz drin.

Das Schutzbengelchen setzte sich seinen Heiligenschein auf den Kopf – ein bisschen schief vielleicht, aber immerhin – und schaute nach unten. Vielleicht würde es Ben heute Abend einen besonders netten Gedanken schicken … ja, es würde sich etwas besonders Gutes einfallen lassen!

Auf einmal, fand das Schutzbengelchen, war es doch ganz schön, nur so auf einer Wolke zu sitzen und auf die glitzernde verschneite Welt hinunter zu schauen. Und vielleicht waren die Schutzengelregeln ja doch nicht ganz so dumm, wie das Schutzbengelchen immer gedacht hatte.

Und als am Abend der Engelschor Weihnachtslieder sang, sang auch das Schutzbengelchen mit. Natürlich etwas zu laut, mit schiefem Heiligenschein auf dem Kopf und einem schmutzigen Fleck auf dem erst verlorengegangenen und dann wiedergefundenen weißen Engelsflügel.

Nein, einen goldenen Stern würde das Schutzbengelchen auch heute nicht bekommen.

Aber als der Erzengel Michael an den singenden Engelchen vorbeiging, blieb er einen Moment vor dem Schutzbengelchen stehen, legte ihm eine Hand auf den zerzausten Schopf und … konnte es sein, dass er dem Schutzbengelchen zublinzelte? Konnte das sein?

Dem Schutzbengelchen wurde sein Löwenherz ganz warm. Glück gehabt, dachte es. Das war ja doch noch gut gegangen!

In Zukunft würde es auch versuchen, ein bisschen weniger laut zu sein. Und sich ein bisschen weniger schmutzig zu machen. Und ein bisschen besser auf seinen Heiligenschein zu achten.

Immerhin ein bisschen. Und das war ja auch schon etwas, oder?

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(Text: © M. Steininger – Die Persönliche Note 2016, Foto: © PublicDomainPictures – Pixabay)